Personal Project
May 2019
Juncal, Portugal
Published in The Weekender Magazin
Die hundert Häuser von Castanheira schmiegen sich unweit des Atlantik an die seichten Hügel der Region Juncal. Ort, an dem Reet wächst - so lässt sich Juncal aus dem Portugiesischen übersetzen. Die langen Gräser sind hier heimisch, wenn auch sie vor ein paar hundert Jahren noch reichlicher wuchsen. Einst gab es in Juncal drei große Seen und ihre Ufer boten dem Reet ein ideales Habitat. Wohin man sah wogen die blühenden Halme im Küstenwind. Zu dieser Zeit, vor etwa 150 Jahren, begannen die ersten Hände nach dem Gras zu greifen und mit ihm schöpferisch zu werden.
Zwei solcher Hände gehörten zu José Custódio Barreiro. In seinem Haus in Castanheira nahm er sich dem Reet an. Er fedelte Halm um Halm durch ein Fadennetz, reihte das weiche Material aneinander bis es zu einer festen Matte wurde. Von diesen nahm er drei, fügte sie zusammen und versah sie mit Griffen aus Weidenholz. Gefertigt war ein Korb - robust, geräumig und schön.
Ein Handwerk war geboren, lokal wie es nur sein kann. Halm und Hand an einem Ort. Und die Hände wurden viele. Mehr und mehr Menschen begannen diese Körbe zu weben, sodass man sie bald im ganzen Land finden konnte. Das Handwerk etablierte sich, die Körbe wurden zum Portugiesischen Kulturgut. Ob José der erste war, der auf die Idee kam einen solchen Korb zu weben, darüber ist man sich in Castanheira nicht ganz einig. Im Dorf kursieren einige Versionen der Geschichte, aber viele von ihnen weisen auf José. Zu der ersten Generation Korbweber in der Region gehörte er gewiss. Und als seine Hände zu alt waren um durch das feine Fadennetz zu finden, übernahm sein Sohn die Werkstatt, und nach ihm dessen Schwiegertochter.
Das Einbringen des Reets, das Sichten und Sortieren, das Baden und Bündeln, das Fädeln und Zurren, Schneiden und Knüpfen, Nähen und Biegen, all das braucht Hingabe und Geduld. Handarbeit hat in gewisser Weise ihre eigene Zeitlichkeit. Eine, die es im Laufe der Jahrzehnte zunehmend schwerer hatte. Die Welt schien ihren Takt zu ändern, Arbeit wurde automatisiert, Zeit wurde kostbarer - bis sie zuletzt nicht mehr bezahlt werden konnte. Vier Generationen nach José stehen daher die Webstühle in Castanheira still.
Es ist ein Tag im Frühjahr 2010 und in Berlin klingelt das Telefon von Nuno Henriques. Der Portugiese ist Mitte zwanzig und nennt Kreuzberg sein zuhause. Nach dem Kunststudium in Lissabon war er hierher gezogen. Seinen Ur-Ur-Großvater José Custódio Barreiro hatte Nuno nicht mehr kennengelernt. Doch die Geschichten kannte er, und die Körbe sowieso, waren sie in der Heimat doch auf jedem Wochenmarkt zu sehen. Der Anruf, der ihn an diesem Tag erreicht, kommt aus seiner Heimat Castanheira. Sein Großvater Toino war gestorben. Die Nachricht trifft Nuno tief. Er hatte als Kind viel Zeit auf dem Hof seines Großvaters verbracht, hatte niemanden mehr geliebt als Toino. Er nimmt den ersten Flieger nach Portugal und trifft noch in der selben Nacht in Castanheira ein.
Die Trauerfeier für Toino findet in der weißen Dorfkirche statt, die sich mitten in Castanheira auf einem kleinen Hügel erhebt. Der Winter steckt noch in ihren Wänden und ist ein Echo der schweren Stunde. Eine schmale Straße führt von hier aus hinab zum Haus der Tante, wo sich die Familie später zusammenfindet. Es gibt eine kräftige Hühnersuppe. Die Gemüter erwärmen sich, es wird in Erinnerung geschwelgt und gelacht. Auch gesprochen über den Neuzuwachs der Familie - denn Nunos Bruder hat erstmals seine neue Freundin mitgebracht. Spontan erhebt dieser sich und holt einen handgewebten Korb aus der Garage - übergibt ihn seiner Freundin als Zeichen des Willkommens. Der Korb als Geste. Und, wie Nuno in diesem Moment begreift, als Träger von Identität. Denn seit Generationen hatte seine Familie diese Körbe gefertigt. Reet und Familienidentität waren miteinander verwoben. “Diese Geste, dieser Korb, beinhaltet die ganze Geschichte. Er ist ein Symbol, das an zwei Griffen getragen werden kann - von diesem Dorf aus in die ganze Welt.” Nuno wird bewusst, dass das Erlischen dieser Handwerkskunst auch das Ende der Familientradition bedeuten würde. “Ich mochte die Vorstellung nicht, dass die Körbe nur noch als Relikt im Museum zu sehen sein würden. Das Handwerk war von so vielen Menschen getragen wurden, über Generationen hinweg. Nun war ich an der Reihe.”
Ein Prozess beginnt, den Nuno als die radikalste Entscheidung seines Lebens beschreibt. Er verlässt die Stadt die er liebt, und tauscht sie gegen den Ort seiner Kindheit. Von Kreuzberg nach Castanheira. “Es war der einzige Weg.” - denn die Kenntnisse der Korbweberei verweilen bei einer Handvoll älteren Damen, die weder Email noch Telefon nutzen. Nuno klopft an all ihre Türen und beginnt, Seite an Seite mit ihnen zu arbeiten. Er übernimmt den leerstehenden Hof seines Großvaters Toino, mitsamt Hühnern und Ziegen. Das Grundstück ist groß; läd ein zu großen Ideen. Der Treckerschuppen wird verwandelt in eine Werkstatt. Der Adega, ein gemauertes Häuschen, das einst als Weinlager diente, hütet fortan Reetballen. Nuno widmet sich dem Handwerk seiner Familie, kurz bevor es in einen ewigen Schlaf fällt. Er gründet Toino Abel.
Das Label denkt die traditionellen Körbe neu. Nuno sieht das Potential in den Objekten, die Möglichkeiten in der Arbeit mit Reet, und beginnt bewusst die Grenzen auszutesten. An dieser Stelle schließt sich Sara an. Sie ist eine etablierte Designerin aus Porto und ist begeistert von der Möglichkeit, sich mit diesen Objekten zu beschäftigen, welche sie schon seit Kindertagen begleitet hatten. “Die Körbe sind Teil unseres Lebens seit so vielen Generationen. Ich nehme sie mit zum Markt und zum Strand, liebe den Geruch des Reets. Toino Abel wurde ins Leben gerufen, als niemand sich mehr um die Körbe kümmerte. Das Label hat dadurch eine sehr wichtige Rolle in der Konservierung des Handwerks gespielt, und es ist diese Liebe und Hingabe, die Toino Abel so wertvoll macht.”
Es entsteht eine Korbkollektion, die auf traditionelle Weise am Webstuhl hergestellt ist und Inspiration im Alten, wie im Neuen findet. Während die Körbe ihre kantige Form und ihr rundes Dach behalten, werden neue Webmuster entwickelt und Details hinzugefügt. Toino Abel macht die Körbe erstmals verschließbar und befestigt Ledergurte, die das Tragen über der Schulter erlauben. Außerdem beginnt das Label neue, grafische Muster zu weben und wendet sich so ab von der traditionellen, oft sehr komplexen und figurativen Webästhetik. Diese Entwicklung ist für Sara besonders entscheidend - “Der große Wandel hin zu einem zeitgemäßeren Objekt entstand vor allem durch die Veränderung der Muster”. Der Gestaltungsprozess hierbei ist stark mit den intrinsischen Limitationen der Weberei verknüpft. Sara verbringt selbst Zeit am Webstuhl, um die Arbeit mit dem Reet besser zu begreifen. Sie lernt von einer der Dorfdamen, die Nuno für Toino Abel engagiert hat. ”Ich habe Celeste einige Tage in ihrer Werkstatt begleitet, um zu verstehen wie das Material funktioniert.” Celeste ist eine energische Frau, mit lautem Lachen und flinken Fingern. Sie beherrscht das Handwerk wie keine Zweite und ist Quelle der vielen Handwerkskenntnisse, von denen Toino Abel schöpft. Von ihr lernt Sara wie Webmuster in Zusammenhang mit den Einstellungen am Webstuhl, der Menge der Fäden und Anzahl der Halme entstehen. Diese Erkenntnisse treffen auf Saras gestalterische Visionen, die inspiriert sind von Portugiesischer Teppichweberei sowie, ganz spezifisch, von dem Bezug eines Pariser Bistrostuhls. In Konversation zwischen diesen zwei Welten, gestaltet Sara in den letzten Jahren eine Vielzahl bunter Körbe für Toino Abel.
Seitdem in Castanheira wieder mit Reet bearbeitet wird, stehen die Pedale der Webstühle selten still. Das Interesse an den Portugiesischen Traditionskörben wächst stetig - Toino Abel verschickt sie in die ganze Welt. So findet man die bunten Körbe zum Beispiel im Moeon Berlin. In dem Laden für nachhaltige Kleidung habe ich sie ein paar Jahre lang freudigen Käuferinnen über den Tresen gereicht. Bis Nuno eines Tages persönlich in den Laden kam, wir uns unterhielten und ich voller Begeisterung für das Handwerk vorschlug, als Praktikantin nach Castanheira zu kommen.
Nur wenige Monate nach dieser Begegnung laufe ich durch das grüne Eisentor auf den Hof von Nuno Henriques. Eine Reihe prächtiger Orangenbäume wirft Schatten auf den Weg, der zur Werkstatt führt. Der Hund Klee hütet die Tür, mit geschlossenen Augen, sich in der Sonne wärmend. Selbst an diesem Tag im April ist die Werkstatt ein kühles Refugium. Der einstige Treckerschuppen umfasst heute auf zwei Etagen die gesamte Welt von Toino Abel. Vom einzelnen Reethalm zum fertigen Korb ist jeder Produktionsschritt hier zu hause. Nuno steht an einem großen Werktisch, eine Schürze umgebunden, und befestigt mal die metallenen Verschlüsse an einem Korb, mal die im Dorf handgefertigten, gravierten Porzellantaler. Regale rahmen den Raum, sind gefüllt mit Körben, sortiert nach Modell. Hier findet man Sara neben Celeste und Paula - jedes Design trägt den Namen einer der Handwerker_innen, die für Toino Abel arbeiten. Ein dutzend Stufen führen hinauf zur Galerie. Hier stehen zwei schwere, hölzerne Webstühle, jeder so groß wie ein Kleinwagen. An ihnen sitzen auf schmalen Holzbänken Alice und Justine, vertieft in ihre Arbeit. Eine Hand hält ein Bund Reet, die andere greift regelmäßig danach, zieht zwei Halme heraus und schiebt sie, mal von links, mal von rechts, durch das Fadennetz. Die beiden Französinnen zogen nach ihrem Designstudium nach Castanheira, fasziniert von den Körben Toino Abels, um das Handwerk zu lernen. “Als ich Toino Abel entdeckte, war ich absolut begeistert von der Webtechnik. Ich hatte so etwas noch nie gesehen und wollte alles lernen über das Material und die Geschichte des Handwerks.” erzählt Alice. Sie ist nun seit fast drei Jahren Teil von Toino Abel und die meisten Körbe, die die Werkstatt verlassen, sind von ihr gewebt. Mehrmals die Woche besucht die Werkstatt Luís aus dem Nachbardorf, nimmt ein paar lange Weidenhölzer aus ihrem Bad und biegt sie mit geschickten Händen zu den schönen Griffen, die die Körbe zieren - ein Handwerk für sich. So ist die Werkstatt ein Treffpunkt der Generationen, vereint durch die Liebe zur Handarbeit. Für Sara ist dies eine der entscheidenden Qualitäten des traditionellen Handwerks: “Es ist auf so vielen Ebenen wertvoll. Es schont die Umwelt, belebt das soziale Miteinander. Außerdem ist die Arbeit mit den Händen ein Weg, sich mehr mit sich selbst und mit der Natur zu verbinden.” Auch für Alice ist die Handarbeit eine persönliche und sinnliche Erfahrung: “Bevor ich beginne mit dem Reet zu weben, halte ich es in den Händen, verstehe wie es sich bewegt, wie es sich anhört. Es ist wie eine Unterhaltung mit der Pflanze, durch die ich begreife, wie ich am besten mit ihr arbeiten kann. Manchmal verfangen sich, während ich webe, Reetblüten am Faden. Ich stelle mir dann vor, dass der Samen mit dem Korb reist und so an die unterschiedlichsten Orte gelangt.”
Folgt man heute der schmalen Straße, die nach Castanheira führt, so findet man neben dem Eucyalyptuswald ein weites Feld an dessen Rand eine alte Wassermühle auf einen Bach blickt. Hier säht Nuno neuerdings Reetsamen. Mit etwas Glück ist Juncal also bald auch wieder ein Ort, an dem Reet wächst.
Halm und Hand
Halm und Hand
Personal Work
May 2019
Juncal, Portugal
Die hundert Häuser von Castanheira schmiegen sich unweit des Atlantik an die seichten Hügel der Region Juncal. Ort, an dem Reet wächst - so lässt sich Juncal aus dem Portugiesischen übersetzen. Die langen Gräser sind hier heimisch, wenn auch sie vor ein paar hundert Jahren noch reichlicher wuchsen. Einst gab es in Juncal drei große Seen und ihre Ufer boten dem Reet ein ideales Habitat. Wohin man sah wogen die blühenden Halme im Küstenwind. Zu dieser Zeit, vor etwa 150 Jahren, begannen die ersten Hände nach dem Gras zu greifen und mit ihm schöpferisch zu werden.
Zwei solcher Hände gehörten zu José Custódio Barreiro. In seinem Haus in Castanheira nahm er sich dem Reet an. Er fedelte Halm um Halm durch ein Fadennetz, reihte das weiche Material aneinander bis es zu einer festen Matte wurde. Von diesen nahm er drei, fügte sie zusammen und versah sie mit Griffen aus Weidenholz. Gefertigt war ein Korb - robust, geräumig und schön.
Ein Handwerk war geboren, lokal wie es nur sein kann. Halm und Hand an einem Ort. Und die Hände wurden viele. Mehr und mehr Menschen begannen diese Körbe zu weben, sodass man sie bald im ganzen Land finden konnte. Das Handwerk etablierte sich, die Körbe wurden zum Portugiesischen Kulturgut. Ob José der erste war, der auf die Idee kam einen solchen Korb zu weben, darüber ist man sich in Castanheira nicht ganz einig. Im Dorf kursieren einige Versionen der Geschichte, aber viele von ihnen weisen auf José. Zu der ersten Generation Korbweber in der Region gehörte er gewiss. Und als seine Hände zu alt waren um durch das feine Fadennetz zu finden, übernahm sein Sohn die Werkstatt, und nach ihm dessen Schwiegertochter.
Das Einbringen des Reets, das Sichten und Sortieren, das Baden und Bündeln, das Fädeln und Zurren, Schneiden und Knüpfen, Nähen und Biegen, all das braucht Hingabe und Geduld. Handarbeit hat in gewisser Weise ihre eigene Zeitlichkeit. Eine, die es im Laufe der Jahrzehnte zunehmend schwerer hatte. Die Welt schien ihren Takt zu ändern, Arbeit wurde automatisiert, Zeit wurde kostbarer - bis sie zuletzt nicht mehr bezahlt werden konnte. Vier Generationen nach José stehen daher die Webstühle in Castanheira still.
Es ist ein Tag im Frühjahr 2010 und in Berlin klingelt das Telefon von Nuno Henriques. Der Portugiese ist Mitte zwanzig und nennt Kreuzberg sein zuhause. Nach dem Kunststudium in Lissabon war er hierher gezogen. Seinen Ur-Ur-Großvater José Custódio Barreiro hatte Nuno nicht mehr kennengelernt. Doch die Geschichten kannte er, und die Körbe sowieso, waren sie in der Heimat doch auf jedem Wochenmarkt zu sehen. Der Anruf, der ihn an diesem Tag erreicht, kommt aus seiner Heimat Castanheira. Sein Großvater Toino war gestorben. Die Nachricht trifft Nuno tief. Er hatte als Kind viel Zeit auf dem Hof seines Großvaters verbracht, hatte niemanden mehr geliebt als Toino. Er nimmt den ersten Flieger nach Portugal und trifft noch in der selben Nacht in Castanheira ein.
Die Trauerfeier für Toino findet in der weißen Dorfkirche statt, die sich mitten in Castanheira auf einem kleinen Hügel erhebt. Der Winter steckt noch in ihren Wänden und ist ein Echo der schweren Stunde. Eine schmale Straße führt von hier aus hinab zum Haus der Tante, wo sich die Familie später zusammenfindet. Es gibt eine kräftige Hühnersuppe. Die Gemüter erwärmen sich, es wird in Erinnerung geschwelgt und gelacht. Auch gesprochen über den Neuzuwachs der Familie - denn Nunos Bruder hat erstmals seine neue Freundin mitgebracht. Spontan erhebt dieser sich und holt einen handgewebten Korb aus der Garage - übergibt ihn seiner Freundin als Zeichen des Willkommens. Der Korb als Geste. Und, wie Nuno in diesem Moment begreift, als Träger von Identität. Denn seit Generationen hatte seine Familie diese Körbe gefertigt. Reet und Familienidentität waren miteinander verwoben. “Diese Geste, dieser Korb, beinhaltet die ganze Geschichte. Er ist ein Symbol, das an zwei Griffen getragen werden kann - von diesem Dorf aus in die ganze Welt.” Nuno wird bewusst, dass das Erlischen dieser Handwerkskunst auch das Ende der Familientradition bedeuten würde. “Ich mochte die Vorstellung nicht, dass die Körbe nur noch als Relikt im Museum zu sehen sein würden. Das Handwerk war von so vielen Menschen getragen wurden, über Generationen hinweg. Nun war ich an der Reihe.”
Ein Prozess beginnt, den Nuno als die radikalste Entscheidung seines Lebens beschreibt. Er verlässt die Stadt die er liebt, und tauscht sie gegen den Ort seiner Kindheit. Von Kreuzberg nach Castanheira. “Es war der einzige Weg.” - denn die Kenntnisse der Korbweberei verweilen bei einer Handvoll älteren Damen, die weder Email noch Telefon nutzen. Nuno klopft an all ihre Türen und beginnt, Seite an Seite mit ihnen zu arbeiten. Er übernimmt den leerstehenden Hof seines Großvaters Toino, mitsamt Hühnern und Ziegen. Das Grundstück ist groß; läd ein zu großen Ideen. Der Treckerschuppen wird verwandelt in eine Werkstatt. Der Adega, ein gemauertes Häuschen, das einst als Weinlager diente, hütet fortan Reetballen. Nuno widmet sich dem Handwerk seiner Familie, kurz bevor es in einen ewigen Schlaf fällt. Er gründet Toino Abel.
Das Label denkt die traditionellen Körbe neu. Nuno sieht das Potential in den Objekten, die Möglichkeiten in der Arbeit mit Reet, und beginnt bewusst die Grenzen auszutesten. An dieser Stelle schließt sich Sara an. Sie ist eine etablierte Designerin aus Porto und ist begeistert von der Möglichkeit, sich mit diesen Objekten zu beschäftigen, welche sie schon seit Kindertagen begleitet hatten. “Die Körbe sind Teil unseres Lebens seit so vielen Generationen. Ich nehme sie mit zum Markt und zum Strand, liebe den Geruch des Reets. Toino Abel wurde ins Leben gerufen, als niemand sich mehr um die Körbe kümmerte. Das Label hat dadurch eine sehr wichtige Rolle in der Konservierung des Handwerks gespielt, und es ist diese Liebe und Hingabe, die Toino Abel so wertvoll macht.”
Es entsteht eine Korbkollektion, die auf traditionelle Weise am Webstuhl hergestellt ist und Inspiration im Alten, wie im Neuen findet. Während die Körbe ihre kantige Form und ihr rundes Dach behalten, werden neue Webmuster entwickelt und Details hinzugefügt. Toino Abel macht die Körbe erstmals verschließbar und befestigt Ledergurte, die das Tragen über der Schulter erlauben. Außerdem beginnt das Label neue, grafische Muster zu weben und wendet sich so ab von der traditionellen, oft sehr komplexen und figurativen Webästhetik. Diese Entwicklung ist für Sara besonders entscheidend - “Der große Wandel hin zu einem zeitgemäßeren Objekt entstand vor allem durch die Veränderung der Muster”. Der Gestaltungsprozess hierbei ist stark mit den intrinsischen Limitationen der Weberei verknüpft. Sara verbringt selbst Zeit am Webstuhl, um die Arbeit mit dem Reet besser zu begreifen. Sie lernt von einer der Dorfdamen, die Nuno für Toino Abel engagiert hat. ”Ich habe Celeste einige Tage in ihrer Werkstatt begleitet, um zu verstehen wie das Material funktioniert.” Celeste ist eine energische Frau, mit lautem Lachen und flinken Fingern. Sie beherrscht das Handwerk wie keine Zweite und ist Quelle der vielen Handwerkskenntnisse, von denen Toino Abel schöpft. Von ihr lernt Sara wie Webmuster in Zusammenhang mit den Einstellungen am Webstuhl, der Menge der Fäden und Anzahl der Halme entstehen. Diese Erkenntnisse treffen auf Saras gestalterische Visionen, die inspiriert sind von Portugiesischer Teppichweberei sowie, ganz spezifisch, von dem Bezug eines Pariser Bistrostuhls. In Konversation zwischen diesen zwei Welten, gestaltet Sara in den letzten Jahren eine Vielzahl bunter Körbe für Toino Abel.
Seitdem in Castanheira wieder mit Reet bearbeitet wird, stehen die Pedale der Webstühle selten still. Das Interesse an den Portugiesischen Traditionskörben wächst stetig - Toino Abel verschickt sie in die ganze Welt. So findet man die bunten Körbe zum Beispiel im Moeon Berlin. In dem Laden für nachhaltige Kleidung habe ich sie ein paar Jahre lang freudigen Käuferinnen über den Tresen gereicht. Bis Nuno eines Tages persönlich in den Laden kam, wir uns unterhielten und ich voller Begeisterung für das Handwerk vorschlug, als Praktikantin nach Castanheira zu kommen.
Nur wenige Monate nach dieser Begegnung laufe ich durch das grüne Eisentor auf den Hof von Nuno Henriques. Eine Reihe prächtiger Orangenbäume wirft Schatten auf den Weg, der zur Werkstatt führt. Der Hund Klee hütet die Tür, mit geschlossenen Augen, sich in der Sonne wärmend. Selbst an diesem Tag im April ist die Werkstatt ein kühles Refugium. Der einstige Treckerschuppen umfasst heute auf zwei Etagen die gesamte Welt von Toino Abel. Vom einzelnen Reethalm zum fertigen Korb ist jeder Produktionsschritt hier zu hause. Nuno steht an einem großen Werktisch, eine Schürze umgebunden, und befestigt mal die metallenen Verschlüsse an einem Korb, mal die im Dorf handgefertigten, gravierten Porzellantaler. Regale rahmen den Raum, sind gefüllt mit Körben, sortiert nach Modell. Hier findet man Sara neben Celeste und Paula - jedes Design trägt den Namen einer der Handwerker_innen, die für Toino Abel arbeiten. Ein dutzend Stufen führen hinauf zur Galerie. Hier stehen zwei schwere, hölzerne Webstühle, jeder so groß wie ein Kleinwagen. An ihnen sitzen auf schmalen Holzbänken Alice und Justine, vertieft in ihre Arbeit. Eine Hand hält ein Bund Reet, die andere greift regelmäßig danach, zieht zwei Halme heraus und schiebt sie, mal von links, mal von rechts, durch das Fadennetz. Die beiden Französinnen zogen nach ihrem Designstudium nach Castanheira, fasziniert von den Körben Toino Abels, um das Handwerk zu lernen. “Als ich Toino Abel entdeckte, war ich absolut begeistert von der Webtechnik. Ich hatte so etwas noch nie gesehen und wollte alles lernen über das Material und die Geschichte des Handwerks.” erzählt Alice. Sie ist nun seit fast drei Jahren Teil von Toino Abel und die meisten Körbe, die die Werkstatt verlassen, sind von ihr gewebt. Mehrmals die Woche besucht die Werkstatt Luís aus dem Nachbardorf, nimmt ein paar lange Weidenhölzer aus ihrem Bad und biegt sie mit geschickten Händen zu den schönen Griffen, die die Körbe zieren - ein Handwerk für sich. So ist die Werkstatt ein Treffpunkt der Generationen, vereint durch die Liebe zur Handarbeit. Für Sara ist dies eine der entscheidenden Qualitäten des traditionellen Handwerks: “Es ist auf so vielen Ebenen wertvoll. Es schont die Umwelt, belebt das soziale Miteinander. Außerdem ist die Arbeit mit den Händen ein Weg, sich mehr mit sich selbst und mit der Natur zu verbinden.” Auch für Alice ist die Handarbeit eine persönliche und sinnliche Erfahrung: “Bevor ich beginne mit dem Reet zu weben, halte ich es in den Händen, verstehe wie es sich bewegt, wie es sich anhört. Es ist wie eine Unterhaltung mit der Pflanze, durch die ich begreife, wie ich am besten mit ihr arbeiten kann. Manchmal verfangen sich, während ich webe, Reetblüten am Faden. Ich stelle mir dann vor, dass der Samen mit dem Korb reist und so an die unterschiedlichsten Orte gelangt.”
Folgt man heute der schmalen Straße, die nach Castanheira führt, so findet man neben dem Eucyalyptuswald ein weites Feld an dessen Rand eine alte Wassermühle auf einen Bach blickt. Hier säht Nuno neuerdings Reetsamen. Mit etwas Glück ist Juncal also bald auch wieder ein Ort, an dem Reet wächst.